19. Dezember 2010

Lesetechniken: Mehr aus einem Text herausholen

Mit dem Lesen haben Studenten oft Kummer. Man liest und liest und liest, und irgendwie ist der Ertrag nicht so, wie er sollte. "Warum geht das nicht in meinen Kopf hinein?"

Das hat oft etwas mit der Lesetechnik zu tun. Dass man ein wissenschaftliches Fachbuch nicht so "weglesen" kann wie ein interessantes Sachbuch oder einen Thriller, merkt jeder Student im ersten Semester.  Und im Vergleich zu Schulbüchern sind die an Hochschulen verwendeten Lehrbücher auch viel komplexer, viel weniger in kleine Bissen unterteilt, die man auf einen Haps verschlingen kann.

Worum es hier geht, das ist das vollständige analytische Erfassen eines Textes. Man muss "intensiv" lesen. Sonst funktioniert es nicht. Richtig, das ist mühsam. Man braucht viel Zeit, muss mitdenken, wiederholen, sich konzentrieren. Und deshalb ist das nur bedingt möglich, wenn man die Lektüre in Bus und Bahn verlegt oder hektisch in einer kurzen Pause erledigt.

Gekonnt lesen
Die Professorin Hania Siebenpfeiffer von der Uni Greifswald hat in einem nützlichen Handout "Gekonnt lesen" zu einer Lehrveranstaltung eine ganze Reihe von Tipps zum besseren Lesen parat. Sie unterscheidet erst einmal sechs Lesetechniken:

Punktuelles Lesen 
  • Sie lesen den Text nur in Teilen.
  • Sie unterbrechen Ihr Lesen und springen von Stelle zu Stelle.
  • Der Sinn entsteht aus einem Mosaik von Infos.
  • Ählich wie Hypertext, von Link zu Link: nicht-lineare Textstruktur, oft bei einzelnen Kapiteln aus Monografien.
Diagonales Lesen (‚Querlesen‘)
  • Sie überfliegen den Text
  • Sie erfassen die wichtigsten Textinhalte und Textstrukturen
  • „Anlesen“: Sie lesen einzelne Sequenzen (Stichprobe)
Kursorisches Lesen
  • in der Regel vollständige Lektüre des Textes, meist auf der Basis vorheriger diagonaler Lektüre
  • Sie heben einzelne Textstellen durch Markierungen hervor
  • Sie machen sich Notizen zu Unklarheiten
  • Sie teilen Argumentationsabschnitte ein
Sequenzielles Lesen
  • Voraussetzung ist die kursorische und diagonale Lektüre
  • Sie lesen den Text genau und vollständig
  • Sie vertiefen sich in einzelne wichtige Passagen (Sequenzen)
  • Sie lesen Absatz für Absatz
  • Sie machen sich Notizen zu den wichtigsten Argumentationsschritten
Intensives Lesen 
  • genaues und detailliertes Erfassen des Textes
  • Sie untersuchen einzelne Aspekte je nach Textgattung, z.B. Aussageabsicht, rhetorische Figuren, Argumentationsstrukturen etc.
  • Sie machen sich ausführliche Notizen zu Aufbau, Thema, Argumentation, Terminologie, Methode sowie eigene Assoziationen, Fragen und weiterführende Überlegungen
Rekapitulierendes Lesen
  • abschließendes ‚Überfliegen‘ des Textes in Hinblick auf den argumentativen Gesamtzusammenhang (‚roter Faden‘).
  • Sie überprüfen und ergänzen Ihre Notizen.
  • Sie frischen ihr Lektürewissen auf.
Im Idealfall lesen Sie also einen wichtigen Text mehrmals: Erst "quer" und kursorisch, dann sequenziell und intensiv, schließlich rekapitulierend.

"Wer hat denn Zeit für sowas?", mögen Sie jetzt fragen. Nun, man macht das nicht bei jedem Text, ganz klar. Aber wenn es wichtig ist, wenn etwas hängenbeiben soll und wenn Sie etwas gründlich verstehen und aufnehmen wollen, dann geht es nicht anders. Je komplizierter die Materie ist, desto notwendiger ist die Abfolge, die Siebenpfeiffer hier vorschlägt.

Das Gelesene festhalten
Jetzt haben Sie schon eine Menge getan, aber bei wichtigen Texten müssen Sie noch einmal ran. Es geht ums "Reflektieren und Archivieren", wie Siebenpfeiffer es nennt. Da bieten sich drei Techniken an: das Leseprotokoll, das Exzerpt und das Konzept.

1. Leseprotokoll
In einem Leseprotokoll, so Siebenpfeiffer, werden alle Überlegungen, Beobachtungen, Ideen und Einfälle, die sich während des Lektüreprozesses eines Textes ergeben, ihrem Erscheinen nach notiert und zwar in Ihrer eigener Sprache bzw. in eigenen Worten und losgelöst vom gelesenen Text.
  • Sie protokollieren also erst einmal ihren Leseprozess.
  • im Verlauf eines Leseprotokolls werden die Notizen immer "dichter", man baut automatisch die Gedankengänge zusammen.
  • Das Ziel ist es, die Ergebnisse der Lektüre festzuhalten, mit der Betonung auf Analyse: was bedeutet X oder Y, worauf bezieht sich der Autor, welche Querverbindungen gibt es?
  • Leseprotokolle sind daher oft umfangreich; man muss hinterher systematisieren und sortieren.
  • Man kann in regelmäßigen Abschnitten, z.B. am Ende eines Textabschnitts, das bisher Notierte bündeln und zu ersten Ergebnissen zusammenfassen.
2. Exzerpt
Wenn Sie "exzerpieren", lassen Sie Ihre eigenen Gedanken beiseite. Das Exzerpt ist eine Zusammenstellung wichtiger Inhalte des Textes, und zwar wortwörtlich. Es ist ein Auszug, ein Extrakt, eine gekürzte Version mit den wesentlichen Passagen eines Textes. Gewissermaßen eine verbundene Zitatesammlung.
  • Es geht nicht unbedingt darum, den gesamten Text wiederzugeben. Wenn Sie eine bestimmte Zielrichtung haben, ein bestimmtes Thema, eine Fragestellung (z.B. für ein Projekt, eine Belegarbeit oder Abschlussarbeit) dann werten Sie den Text genau danach aus: Sie nehmen nur das, was Sie brauchen und was "passt".  Sie müssen also bewusst auswählen.
  • Die Textpassagen sollen mit der genauen Angabe ihres Ursprungsortes (Texttitel, Verfasser, Ausgabe und Seitenzahl) abgeschrieben werden. Sie schreiben also direkte oder indirekte Zitate aus.
3. Konzept
Das Konzept legt die Argumentation, die Organisation, Aufbau und Ablauf eines Textes offen. Es geht also ausschließlich um die Struktur. Wörtliche Zitate und eigene Gedanken zum Text gehören hier nicht hin. Ziel ist es, sich einen Überblick über die zentralen Fragen und Argumentationsschritte zu verschaffen, gewissermaßen das tragende Skelett und ein bisschen vom Fleisch.
  • Die wesentlichen Fragen, die zu beantworten sind: Was ist der Gegenstand? Was ist das Thema? Welche These(n) hat ein Autor? Welche Hypothese(n) will der Autor überprüfen? Welche Fragestellung wird verfolgt? Wie plant der Autor seine Untersuchung? Wie verläuft die Argumentation? Welche Positionen aus der Forschung behandelt der Autor, woran (und an wen) knüpft er an? Was ist sein Ergebnis?
Leseprotokoll, Exzerpt und Konzept ergänzen sich und heben auf unterschiedliche Aspekte des Inhalts ab. Alle drei zusammen ergeben eine umfassende Darstellung, Analyse und Interpretation des Textes. Der Text wird zu einem wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand, wird geradezu erforscht.


Den Aufwand treibt man, wie gesagt, nicht bei jedem Text. Aber genau zu wissen, wie man lesen kann, und dann über die richtige Lesetechnik und Lektüreauswertung zu entscheiden: das man die Schlüsselkompetenz des wissenschaftlichen Lesens aus.


Buchtipp
Otto Kruse (2010): Lesen und Schreiben.  Reihe: Studieren, aber richtig, 184 Seiten, UTB / UVK ISBN: 978-3-8252-3355-6 (UTB: 3355), 14,90 Euro.

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