18. Dezember 2010

Die Vorlesung: mitschreiben, überleben und erleben

Häufigste Frage von Studenten in den ersten Vorlesungen: Was ist die beste Methode des Mitschreibens? Das Wort "Mitschreiben" klingt nach Dauerprotokoll. Aber: Alles aufschreiben, was der Prof sagt – das führt nur zum Krampf in der Schreibhand. Man kann definitiv zu viel mitschreiben.

Sie sitzen nicht in der Vorlesung, um Stenografie zu lernen. Es ist sogar so: Während Sie schreiben, denken Sie nicht, und wenn Sie ganz viel mitschreiben, lernen Sie weniger, als wenn Sie gar nichts mitschreiben. Es kann Ihnen passieren, dass Sie Ihren Notizblock vollmachen, aber wenn Sie sich Ihre Notizen hinterher anschauen, sagt Ihnen das Geschriebene nichts mehr. Man könnte sagen: Je mehr Notizen Sie haben, desto unwahrscheinlicher ist es, dass es Ihnen bei der Nacharbeit und bei der Prüfungsvorbereitung hilft. Weniger ist mehr.

Patentrezepte gibt es nicht. Was die "beste" oder "richtige" Methode ist, muss jeder für sich entwickeln. Tipps und Anregungen gibt es auf einigen Internetseiten, zum Beispiel:

Was die Mitschrift leisten soll, hängt von der Absicht des Studenten ab. Hans-Jürgen Apel, Ex-Pädagogikprofessor an der Uni Bayreuth, hat in seinem Buch für Dozenten "Die Vorlesung - Einführung in eine akademische Lehrform" (1999) zwei Basisstrategien bei Studenten ausgemacht:
  • die Strategie des Auswendiglernens: pragmatisch richten sich Studenten danach aus, wie sie ihr "Prüfungswissen" auf möglichst schnelle Weise aneignen können. Eine weitergehende Durchdringung der Inhalte ist für sie keine Thema. Es geht ihnen also darum, Vorlesungsteile, Begriffe, Einzelaussagen, Regeln wie vorgegeben auswendig zu lernen, um sie für die Klausur parat zu haben. Die Aufmerksamkeit bleibt dann natürlich an der Oberfläche.
  • die Strategie des Verstehen-Wollens: Hier geht es Studenten darum, die Aussagen einer Vorlesung über Texte, Tabellen, Formeln usw. in einen Zusammenhang einzuordnen. Sie wollen sich die Grundstruktur merken, nicht einzelne Worte. Sie reichern das Gehörte mit anderem an. Sie formulieren den Stoff mit eigenen Worten um, stellen Zusammenhänge mit dem bereits Erlernten her.
Es ist plausibel, dass dann auch die Mitschrift jeweils anders aussieht.

Die Vorlesung und die Hochschule selbst beeinflussen natürlich, welche Strategien Studenten verfolgen. Wer in der Vorlesung zum Fragen und Weiterdenken motiviert wird, verlässt vielleicht eher den Pfad des Auswendiglernens. Ist der Prüfungsdruck hoch, fixieren sich mehr Studenten auf die Mitschrift als Prüfungsvorbereitung. Das sind Fragen des Lernklimas.

Außerdem liegt ein Schlüssel in der Fachkultur – juristische Vorlesungen zu den Grundlagen des BGB sehen z.B. anders aus als betriebswirtschaftliche zum Personalmanagement oder politikwissenschaftliche zur Europapolitik.

Die Vorlesung ist als akademische Lehrform ebenso gewöhnungsbedürftig wie schwierig zu meistern. Und obwohl sie an Hochschulen typisch und selbstverständlich ist, so ist sie doch auch umstritten. Sie stellt hohe Ansprüche: erstens an die Lerntechniken der Studenten, zweitens an das Können der Profs als Lehrer.

Stunde der Wahrheit:
Persönlicher Vermittlungsstil und Vorlesungstypen


Das Besondere an Vorlesungen – im Vergleich zum Lehrbuch – ist die Abhängigkeit vom persönlichen Stil der Darstellung und Vermittlung.
  • Der eine Professor ist eine Faktenschleuder, die andere Professorin will immerzu Fragen aufwerfen und im Dialog Vorlesung machen. 
  • Die eine legt rasantes Tempo vor, der andere geht gemächlich nur durch Grundlegendes. 
  • Der eine will Fans für sein Fach gewinnen, die andere hält das nicht für nötig. 
  • Während ein Professor perfekte Systematik liefert, bietet der andere reichlich Anregungen zum Selbststudium und Selber-Denken. 
  • Der eine will Prüfungsmaterial liefern, die andere kritisches Denken einüben. 
  • Die eine hält sich strikt an ein Buch oder an ein umfassendes Skript, der andere geht stets über die schriftlichen Materialien hinaus – und wenn es Tafelbilder oder Folien gibt, muss man sich ganz viel dazu notieren, weil man diese nicht ohne das Gehörte verstehen kann.

Was heißt das fürs Mitschreiben? Die tatsächliche Vorlesung bietet nur Rohmaterial, das bearbeitet werden will. Mitschriften – und die Nachbearbeitung des Gehörten – müssen sich anpassen. Diese Anpassungsfähigkeit will gelernt sein. Darum hat Mitschrift eben auch etwas mit Lerntechnik zu tun – mit Lerntechnik, die von der Lehrtechnik des Profs abhängig ist.

Das ist nicht nur geistige Gängelei. Das zu lernen, ist im Berufsleben wichtig. Sich einstellen zu können auf unterschiedliche Weisen der Informationsvermittlung, ist eine zentrale Qualifikation und Kompetenz.

Was Professoren manchmal aus Vorlesungen machen, ist, zugegeben, manchmal furchtbar. Wenn die Vorlesung einfach schlecht ist, ist es absurd, wenn Profs über die "Konsumhaltung" oder "geistige Trägheit" von Studenten schimpfen – oder darüber, dass die heutige Generation kaum noch mehr als ein paar Minuten konzentriert zuhören kann. Die Kritik von Studenten ist dann genauso harsch, und es geht ihnen nur noch darum, die Vorlesung zu überleben. Was oft auch heißt, Verwirrung und Langeweile zu bekämpfen. Die Mitschrift hat dabei den Zweck, Ordnung ins Chaos zu bringen und mit Lehrbüchern abzugleichen. Viel besser ist natürlich, wenn die Vorlesung und dann die Mitschrift zum "aktiven Lernen" und Selbststudium beitragen.

Vom persönlichen Vermittlungsstil der Professoren hängt also ganz schön viel ab. Mehr noch, das "Erlebnis Vorlesung" gibt dem Studium erst die persönliche Note.  Was macht eine Vorlesung bei einem Prof unverwechselbar und einmalig? Ganz sicher nicht nur das Thema. Was ist der Mehrwert der Anwesenheit in einer Vorlesung? Bestimmt auch die "Verlebendigung" der Wissenschaft. Da steht ein realer Mensch aus Fleisch und Blut, mit mehr oder weniger Glaubwürdigkeit. Als Student kann man persönliche Perspektiven erfahren, den Gedankengang eines mehr oder minder kompetenten Experten miterleben.

Auch weil Vorlesungen etwas sehr Individuelles sein können, sind Mitschriften anders als Fachbücher. Die Mitschrift kann natürlich nur so gut, interessant und hilfreich sein wie die Vorlesung, auf der sie beruht. Im besten Fall liefert eine Vorlesung gute Orientierung über ein Fach und Thema, sie vermittelt nicht nur Prüfungsstoff, sondern Einsichten und Anregungen, sie ist aktuell, präsentiert Beispiele und Anwendungen. Schließlich weckt sie Interesse, Motivation, vielleicht sogar Begeisterung, jedenfalls: Appetit auf mehr. Das alles nicht nur klar, strukturiert und korrekt, sondern möglichst lebendig, einfallsreich und einprägsam.

Dem Anspruch werden wir Professoren häufig nicht gerecht – mal aus Mangel an Erfahrung und didaktischer Ausbildung, mal aus Naivität, mal aus aus schlechter Laune, mal aus anders gesetzten Prioritäten, mal aus Unwillen. Nicht jeder Hochschullehrer begreift sich vorrangig als Lehrer, sondern eher als Experte, der sein Wissen teilt – das ist für Studenten wichtig zu verstehen.
"Ursprünglich nicht mehr als eine zeitsparende Methode zur Verbreitung von standardisiertem Lehrbuchwissen, ist die Vorlesung im Zeitalter des Kopierers zur letzten Bastion von Individualität im Universitätsbetrieb geworden.
Im Hörsaal schlägt jedem Gelehrten die Stunde der Wahrheit",

schrieb der Kulturjournalist Richard Kämmerlings vor einigen Jahren in der FAZ. Er entwickelte dabei "eine kleine Typologie des Vorlesungsstils". Kämmerling grenzte fünf Idealtypen (das sind nicht Ideale, sondern Modelle in Reinkultur) voneinander ab: den Beamten, den Stegreifspieler, den Clown, den Diktator und das Medium.
  • Der Beamte habe stets einen ausformulierten Vortrag parat, manchmal auswendig gelernt. "Verschiedene Register vermag er nicht zu ziehen, dafür öffnet er beim Reden schön der Reihe nach alle Schubladen im Hirnkasten. Er verheddert sich nie, bietet aber auch keinerlei Überraschungsmomente. Auf Kapitel römisch zwei, arabisch eins, klein b alpha folgt mit Sicherheit beta, und selbst Zitate aus dem Kopf lassen sich mittels präziser Literaturangaben wiederfinden." Er erzähle er nie von sich und trage stets unauffällig korrekte Anzüge. Wer etwas Persönliches erfahren wolle, müsse zwischen den Sätzen hören.
  • Das Gegenteil sei der Stegreifspieler. Der hat gar keinen Text als Grundlage. "Deswegen sucht er öfter Zuflucht beim Nächstliegenden, und das ist er selbst. So nimmt der ganze Hörsaal Anteil an hochschulbürokratischen Intrigen, Tagungsbekanntschaften und Kinoerlebnissen. Der Vorlesende weiß ebensowenig wie seine Hörer, wohin ihn die Verfertigung der Gedanken beim Reden treiben wird. Vom Hölzchen kommt er aufs Stöckchen und verläßt so mitunter die ausgetretenen Pfade biederer Gelehrsamkeit und entdeckt ungeahnte Passagen." Allerdings entpuppe sich "die terra incognita als Niemandsland, aus dem kein Weg und keine Wendung zurückführt. Verschachtelte Satzkonstruktionen brechen unvermittelt ab, geöffnete Klammern werden nie geschlossen". Der genarrte Student, folgert Kämmerlings, werde keinen klaren Gedanken mit nach Hause tragen können.

  • Dann gibt es noch den Clown. Der improvisiert nur scheinbar, meint Kämmerlings. Der Auftritt dieses Unterhaltungskünstlers sei in Wahrheit bis ins Detail einstudiert. "Je größer das Auditorium, desto besser die Vorstellung. In dieser perfekten One-Man-Show sitzt jeder Witz, kommt jede Pointe passend zur unbemerkten Argumentationslücke. Eine beliebte Nummer ist die Hilflosigkeit beim Umgang mit Tageslichtprojektoren, Mikrophonen oder Saalbeleuchtung. Ein guter Clown bezieht sein Publikum ein, hat aber jede Reaktion bereits vorausberechnet." Sein geheimer Wahlspruch stamme von Nietzsche: "Je abstrakter die Wahrheit ist, die man lehren will, um so mehr muß man erst die Sinne zu ihr verführen."

  • Der Clown sei eng verwandt mit dem Diktator, doch beim Diktator lachten die Studenten nur aus Angst. Hier gilt: Ordnung muss ein, und die wird durchgesetzt. "Er beherrscht sein Thema und den Hörsaal. Seinem Vortrag folgt man wie einem Befehl. Der Diktator diktiert, Wort für Wort, er will noch kontrollieren, was die Hörer in ihre Kladden schreiben, und herrscht schon einmal Novizen in der ersten Reihe an: 'Warum schreiben sie das jetzt nicht mit? Das ist wichtig.'"

  • Der interessanteste Fall sei das Medium. Mit Medium meint Kämmerlings eine Person, die im Sinne des Okkultismus Verbindung mit Geistern und sonstigem Jenseits herstellen kann – zum Beispiel mit verstorbenen Theoretikern. "Durch das Medium spricht der Forschungsgegenstand selbst, Subjekt und Objekt verschmelzen miteinander." Das führe so weit, dass der Vortragende seinen Gegenstand imitiert, die Studenten würden Zeuge einer Seelenwanderung. Wo das Zitat aufhört und der Kommentar beginnt, das wüssten die Hörer kaum noch. "Über Wilhelm von Humboldt etwa handelt das echte Medium in harmonischem Zusammenspiel von Vernunft und Sinnlichkeit, steht Schiller auf dem Plan, dann wettert es prompt mit Moorschem Feuer gegen das eigene tintenklecksende Säkulum. Seine Vorlesung über die Dandy-Figur in der Weltliteratur kann dagegen auch im schummerigen Hörsaal nicht ohne Sonnenbrille über die Bühne gehen."
Die Zuordnung zu einem dieser fünf Typen dürfe man allerdings nicht schon für ein Qualitätsurteil halten, meint Kämmerlings. "So gibt es schlampige Beamte, lächerliche Diktatoren oder auch - das schlimmste - langweilige Clowns. Doch ist der Vorlesungsstil in jedem Fall ein Indikator dafür, ob ein Professor vom Charisma seines Themas hingerissen oder von der Blässe des Gedankens selber angekränkelt ist." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.04.1999, Nr. 86, S. 56)

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